Was Steiner
noch nicht wissen konnte: Erst später fanden archäologische
Grabungen statt, die keine Entsprechungen zu der Artus-Legende
finden konnten und die heutige Deutung nahelegten, dass die Burg von Tintagel
erst durch die Artus-Sagen des mittelalterlichen Dichters Geoffrey
von Monmouth (12. Jahrhundert) mit dem viel früheren keltischen
König verknüpft wurde, von dem ohnehin nicht klar ist, ob er
jemals wirklich gelebt hat. Sass der "Eingeweihte" Steiner also
einer Legendenbildung auf, die er aufgrund fehlender wissenschaftlicher
Erkenntnisse nicht zu durchschauen vermochte? Steiner macht es seinen
Kritikern leicht, weil er sagt: Ich sehe dies in der Akasha-Chronik, die
weiter geht als alle empirischen Quellen. Nur ich habe die Sinnesorgane
für "mystische Tatsachen" der Vorzeit, die der normale
Forscher nicht sehen kann. Durch das Apodiktische und Selbstbewusste solcher
Behauptungen wird Steiner umso angreifbarer, wenn spätere Forschung
ganz andere Belege vorführt bzw. seine Thesen in Zweifel ziehen muss.
Eine andere Sicht
Aber es gibt noch eine andere Schicht in Steiners Äusserungen, die
ihn ein Stück weit rehabilitieren kann und die merkwürdigerweise
auch von seinen intelligenten Kritikern kaum wahrgenommen wird. Steiner
spricht immer in grossen Bildern, und auch wenn er kein begnadeter
Dichter gewesen ist, so geht es ihm doch eher um symbolische Aussagen
als um die Mitteilung von archäologischen oder philologischen Fakten.
Besucht man Cornwall heute, so ist man - wie er 1924 - ständig von
den Mythen um König Artus umgeben, die einen in eine imaginative
Welt einhüllen, die von Gralsrittern, Gralsburgen, Druiden, Verwandlungsmysterien,
verwunschenen Seen und Zauberschwertern erzählt. Viele Seen, Berggipfel,
Steinkreise, Burgen, Menhire und Brunnen sind nach Gestalten aus der Artussage
benannt und passen atmosphärisch auf verblüffende Art mit der
Aura der alten Geschichten zusammen. In der Toskana könnte dieses
Stück nicht spielen. Steiner war berührt davon, weil ihn das
mystische und narrative Element am keltischen Geist zutiefst faszinierte
und er in diesen Sagen eigene Ideen über das Wesen europäischer
Spiritualität weiterspinnen konnte. Die Ritter der Tafelrunde waren
ihm Sinnbilder für den einzelnen suchenden Menschen, der losgelöst
von religiösen Traditionen und Stammesbindungen alleine seinen Weg
durch das Dickicht der Welt finden muss: eine Metapher auch für den
schwierigen und umkämpften Weg von Steiners neu entstandener Anthroposophie.
Einsame Bergwege, schroffe Klippen, nebelverhangene Heidelandschaften
und in der Ferne thronende Burgen, der Wechsel von Sonne und Regen, dramatische
Himmelslandschaften und Lichtwirkungen waren vortreffliche Chiffren für
diesen "Pfad", ebenso wie das mehrdeutige Symbol des Heiligen
Gral, das zwischen heidnischem Initiationskessel und christlicher Blutsschale
hin- und heroszilliert. Mit diesen Ideen kommt Steiner nach Cornwall und
verbindet sich mit den dort seit Jahrhunderten lebenden Mythen und Sinnbildern.
Er lebt in ihnen und bestimmte Orte regen seine Phantasie an, den Gralsstoff
für sich weiterzudenken und dessen Bilder noch stärker in der
eigenen Seele spüren zu können. Tintagel ist dabei nur ein Auslöser
von vielen. Auch andere Burgruinen in England und Wales beanspruchen ja,
Artusstätten zu sein und wahrscheinlich gibt es längst bizarre
Streitereien unter Lokalpatrioten, wessen Gemäuer denn nun von der
Forschung endlich als authentisch geadelt wird. Steiner in diese Linie
zu stellen wäre absurd. Sein Denken in Bildern lässt
sich wissenschaftlich weder verifizieren noch widerlegen. Es muss mit
ganz anderen Instrumenten angefasst werden, die ins Innere der Bilder
selbst gehen und dort schauen, was fruchtbar und was verstiegen ist. Bei
Steiners Begriff der "Gralssuche" wäre etwa nach gnostischen
Elementen darin zu fragen, nach heimlichen Tendenzen zur völligen
Auflösung des materiellen Menschen in Licht und Vergeistigung, die
in den traditionellen Gralssagen so nicht zu finden sind und von denen
unklar ist, ob sie zum Heldenarchetyp des 21. Jahrhunderts taugen.
Objektive geistige Räume
Lesen in der Akasha-Chronik könnte demnach u.a. heissen, an alte
Archetypen, Symbole und Sinnbilder angeschlossen zu sein und sie in sein
Denken hineinzulassen, um es in Bewegung zu bringen. Alle Künstler
kennen diesen Vorgang, auch die grossen Wissenschaftler und Entdecker,
wenn sie von Inspirationen heimgesucht werden, die sie sich rational erst
einmal nicht erklären können. Da sind Steiners "Visonen"
nichts Besonderes. In der Zeit um 1900, wo Freud das Unbewusste eher zu
einer Müllhalde für psychisch nicht Verarbeitetes degradierte,
protestierten Denker wie C.G. Jung und Rudolf Steiner gegen eine solche
Verkümmerung der weiten Seelenräume, die sich bei der Begegnung
mit Kunst und Mythologie auftun können. Der eine nennt es das "kollektive
Unbewusste", das Reich der "Archetypen" und der
andere - inspiriert von fernöstlicher Religion - "Akasha-Chronik".
Beides sind Annäherungsversuche an einen schwierigen Raum, der vielleicht
dem Künstler zugänglicher ist als dem Wissenschaftler. Beide
Begriffe geben zu bedenken, dass mythische Bilder vielleicht nicht nur
vom Menschen "erfunden" wurden, sondern dass sie Gefässe
für geistige Inhalte sein könnten, deren Ausdrucksformen von
Epoche zu Epoche variieren, aber vermutlich immer auf einen Raum des Urbildlichen
jenseits der Geschichte bezogen sind. Sie enthalten einen Mehrwert, der
nicht völlig in die jeweiligen historische Kontexte aufzulösen
ist. Vor allem der "Gralssucher" ist ein gutes Beispiel dafür:
dieses Urbild des wandernden und suchenden Helden versteckt sich hinter
zahllosen Masken der Mythengeschichte, die von Gilgamesch, Odysseus und
Herakles über Siegfried und Parzival bis hin zu modernen Romanfiguren
und Filmhelden reichen. Er berührt - alle Kulturen und Altersstufen
übergreifend - etwas Grundsätzliches im Menschen. Steiner liebte
diesen Archetyp ganz besonders und fand ihn in einer Fülle von Bildern
auf seinen Reisen durch das keltische England wieder. Bei seinen Betrachtungen
zu Tintagel gilt es auch diesen Unterton herauszulesen, statt nur mit
philologischen oder archäologischen Argumenten aufzuwarten.
Missverständliches
theosophisches Vokabular
Steiner hätte sich allerdings anders ausdrücken können,
in Tintagel ebenso wie bei seinen Auslassungen zu Atlantis, zur Druidenkultur,
dem antiken Mysterienwesen und vielen anderen Dingen. Statt wirklich schöpferisch
zu sein, knüpfte er einfach an esoterische Begrifflichkeiten in seinem
theosophischen Umfeld an, um ein Sprachrohr für seine Ideen und einen
geneigten Zuhörerkreis zu finden. Dies zeigt, dass Steiner kein genuin
künstlerisches Talent war, trotz seiner Liebe zur Kunst und der grossen
Rolle, die das Ästhetische in der Waldorfpädagogik spielt. Wären
Rainer Maria Rilke, Paul Klee oder Hermann Hesse 1924 nach Tintagel gepilgert,
hätten sie sich vermutlich ganz ähnlichen Ideen oder Assoziationen
hingegeben, aber dies in einer originären künstlerischen Sprache
ausgedrückt, die das Entscheidende im Raum des Poetisch-Mehrdeutigen
belassen hätte. Das war Steiner scheinbar nicht genug. Es wollte
halt nicht bloss Dichter, sondern "Geisteswissenschaftler" sein,
der nicht nur von Bildern, sondern von "mystischen Tatsachen"
spricht. Daher muss er sich bis heute die Angriffe der wissenschaftlichen
Kritik gefallen lassen, die ihn letztlich an seinen selbst gestellten
Ansprüchen misst bzw. heutige Anthroposophen sollten genauer klären,
was sie mit so widersprüchlichen Begriffen wie Akasha, Mysterienstätte,
Mythos, Bild, Begriff, Schau, Hellsichtigkeit, Tatsache und Wissenschaft
eigentlich meinen und sich der Schwierigkeiten öffentlicher Kommunikation
mit diesen Begriffen klarer bewusst sein.
Interessante
Links zur Archäologie von Tintagel:
http://www.heroicage.org/issues/1/hati.htm
oder http://www.bbc.co.uk/dna/h2g2/A201312
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