Die Wahrheit der Bilder
Rudolf Steiner, König Artus und die Akasha-Chronik

von Rüdiger Sünner (info3, November 2007) PDF

Nichts vermag echte Anthroposophen so zum andächtigen Staunen und deren Kritiker so zur Polemik treiben, wie die von Rudolf Steiner immer wieder behauptete Fähigkeit zur Schau in übersinnlichen Welten, in der sogenannten Akasha-Chronik. Auch in der jüngst veröffentlichten 2000-Seiten Studie von Helmut Zander ("Anthroposophie in Deutschland") geht es um die Auseinandersetzung mit diesem Reizbegriff, der quer zu allem zu stehen scheint, was dem modernen aufgeklärten Menschen lieb und heilig ist.
Zander führt ein Beispiel an, das den Unsinn solcher "Schauungen" drastisch vor Augen führen soll. Steiner besuchte bei einer Englandreise 1924 die dem legendären König Artus zugeschriebenen Burgruinen von Tintagel in Cornwall und meinte in einer okkulten Schau dessen Gralsgemeinschaft vor sich zu sehen. "Von vielsagenden Burgestrümmern kommen wir", schrieb er an Albert Steffen, "hier sassen einst die alten Dämonenbesieger verstärkend des Führers Kraft durch die Sternen-Zwölf. Die Burgen sind verstummt, die Astralmoral ist verstummt, doch Geisteskraft wuchtet um den Berg, und Seelenbildemacht stürmt vom Meer. - Zaubrisch wechselnd sind Licht- und Lüfteringen, die kräftig zu der Seele dringen auch heute nach dreitausend Jahren."  

Was Steiner noch nicht wissen konnte: Erst später fanden archäologische Grabungen statt, die keine Entsprechungen zu der Artus-Legende finden konnten und die heutige Deutung nahelegten, dass die Burg von Tintagel erst durch die Artus-Sagen des mittelalterlichen Dichters Geoffrey von Monmouth (12. Jahrhundert) mit dem viel früheren keltischen König verknüpft wurde, von dem ohnehin nicht klar ist, ob er jemals wirklich gelebt hat. Sass der "Eingeweihte" Steiner also einer Legendenbildung auf, die er aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu durchschauen vermochte? Steiner macht es seinen Kritikern leicht, weil er sagt: Ich sehe dies in der Akasha-Chronik, die weiter geht als alle empirischen Quellen. Nur ich habe die Sinnesorgane für "mystische Tatsachen" der Vorzeit, die der normale Forscher nicht sehen kann. Durch das Apodiktische und Selbstbewusste solcher Behauptungen wird Steiner umso angreifbarer, wenn spätere Forschung ganz andere Belege vorführt bzw. seine Thesen in Zweifel ziehen muss.

Eine andere Sicht
Aber es gibt noch eine andere Schicht in Steiners Äusserungen, die ihn ein Stück weit rehabilitieren kann und die merkwürdigerweise auch von seinen intelligenten Kritikern kaum wahrgenommen wird. Steiner spricht immer in grossen Bildern, und auch wenn er kein begnadeter Dichter gewesen ist, so geht es ihm doch eher um symbolische Aussagen als um die Mitteilung von archäologischen oder philologischen Fakten. Besucht man Cornwall heute, so ist man - wie er 1924 - ständig von den Mythen um König Artus umgeben, die einen in eine imaginative Welt einhüllen, die von Gralsrittern, Gralsburgen, Druiden, Verwandlungsmysterien, verwunschenen Seen und Zauberschwertern erzählt. Viele Seen, Berggipfel, Steinkreise, Burgen, Menhire und Brunnen sind nach Gestalten aus der Artussage benannt und passen atmosphärisch auf verblüffende Art mit der Aura der alten Geschichten zusammen. In der Toskana könnte dieses Stück nicht spielen. Steiner war berührt davon, weil ihn das mystische und narrative Element am keltischen Geist zutiefst faszinierte und er in diesen Sagen eigene Ideen über das Wesen europäischer Spiritualität weiterspinnen konnte. Die Ritter der Tafelrunde waren ihm Sinnbilder für den einzelnen suchenden Menschen, der losgelöst von religiösen Traditionen und Stammesbindungen alleine seinen Weg durch das Dickicht der Welt finden muss: eine Metapher auch für den schwierigen und umkämpften Weg von Steiners neu entstandener Anthroposophie. Einsame Bergwege, schroffe Klippen, nebelverhangene Heidelandschaften und in der Ferne thronende Burgen, der Wechsel von Sonne und Regen, dramatische Himmelslandschaften und Lichtwirkungen waren vortreffliche Chiffren für diesen "Pfad", ebenso wie das mehrdeutige Symbol des Heiligen Gral, das zwischen heidnischem Initiationskessel und christlicher Blutsschale hin- und heroszilliert. Mit diesen Ideen kommt Steiner nach Cornwall und verbindet sich mit den dort seit Jahrhunderten lebenden Mythen und Sinnbildern. Er lebt in ihnen und bestimmte Orte regen seine Phantasie an, den Gralsstoff für sich weiterzudenken und dessen Bilder noch stärker in der eigenen Seele spüren zu können. Tintagel ist dabei nur ein Auslöser von vielen. Auch andere Burgruinen in England und Wales beanspruchen ja, Artusstätten zu sein und wahrscheinlich gibt es längst bizarre Streitereien unter Lokalpatrioten, wessen Gemäuer denn nun von der Forschung endlich als authentisch geadelt wird. Steiner in diese Linie zu stellen wäre absurd. Sein Denken in Bildern lässt sich wissenschaftlich weder verifizieren noch widerlegen. Es muss mit ganz anderen Instrumenten angefasst werden, die ins Innere der Bilder selbst gehen und dort schauen, was fruchtbar und was verstiegen ist. Bei Steiners Begriff der "Gralssuche" wäre etwa nach gnostischen Elementen darin zu fragen, nach heimlichen Tendenzen zur völligen Auflösung des materiellen Menschen in Licht und Vergeistigung, die in den traditionellen Gralssagen so nicht zu finden sind und von denen unklar ist, ob sie zum Heldenarchetyp des 21. Jahrhunderts taugen.

Objektive geistige Räume
Lesen in der Akasha-Chronik könnte demnach u.a. heissen, an alte Archetypen, Symbole und Sinnbilder angeschlossen zu sein und sie in sein Denken hineinzulassen, um es in Bewegung zu bringen. Alle Künstler kennen diesen Vorgang, auch die grossen Wissenschaftler und Entdecker, wenn sie von Inspirationen heimgesucht werden, die sie sich rational erst einmal nicht erklären können. Da sind Steiners "Visonen" nichts Besonderes. In der Zeit um 1900, wo Freud das Unbewusste eher zu einer Müllhalde für psychisch nicht Verarbeitetes degradierte, protestierten Denker wie C.G. Jung und Rudolf Steiner gegen eine solche Verkümmerung der weiten Seelenräume, die sich bei der Begegnung mit Kunst und Mythologie auftun können. Der eine nennt es das "kollektive Unbewusste", das Reich der "Archetypen" und der andere - inspiriert von fernöstlicher Religion - "Akasha-Chronik". Beides sind Annäherungsversuche an einen schwierigen Raum, der vielleicht dem Künstler zugänglicher ist als dem Wissenschaftler. Beide Begriffe geben zu bedenken, dass mythische Bilder vielleicht nicht nur vom Menschen "erfunden" wurden, sondern dass sie Gefässe für geistige Inhalte sein könnten, deren Ausdrucksformen von Epoche zu Epoche variieren, aber vermutlich immer auf einen Raum des Urbildlichen jenseits der Geschichte bezogen sind. Sie enthalten einen Mehrwert, der nicht völlig in die jeweiligen historische Kontexte aufzulösen ist. Vor allem der "Gralssucher" ist ein gutes Beispiel dafür: dieses Urbild des wandernden und suchenden Helden versteckt sich hinter zahllosen Masken der Mythengeschichte, die von Gilgamesch, Odysseus und Herakles über Siegfried und Parzival bis hin zu modernen Romanfiguren und Filmhelden reichen. Er berührt - alle Kulturen und Altersstufen übergreifend - etwas Grundsätzliches im Menschen. Steiner liebte diesen Archetyp ganz besonders und fand ihn in einer Fülle von Bildern auf seinen Reisen durch das keltische England wieder. Bei seinen Betrachtungen zu Tintagel gilt es auch diesen Unterton herauszulesen, statt nur mit philologischen oder archäologischen Argumenten aufzuwarten.

Missverständliches theosophisches Vokabular
Steiner hätte sich allerdings anders ausdrücken können, in Tintagel ebenso wie bei seinen Auslassungen zu Atlantis, zur Druidenkultur, dem antiken Mysterienwesen und vielen anderen Dingen. Statt wirklich schöpferisch zu sein, knüpfte er einfach an esoterische Begrifflichkeiten in seinem theosophischen Umfeld an, um ein Sprachrohr für seine Ideen und einen geneigten Zuhörerkreis zu finden. Dies zeigt, dass Steiner kein genuin künstlerisches Talent war, trotz seiner Liebe zur Kunst und der grossen Rolle, die das Ästhetische in der Waldorfpädagogik spielt. Wären Rainer Maria Rilke, Paul Klee oder Hermann Hesse 1924 nach Tintagel gepilgert, hätten sie sich vermutlich ganz ähnlichen Ideen oder Assoziationen hingegeben, aber dies in einer originären künstlerischen Sprache ausgedrückt, die das Entscheidende im Raum des Poetisch-Mehrdeutigen belassen hätte. Das war Steiner scheinbar nicht genug. Es wollte halt nicht bloss Dichter, sondern "Geisteswissenschaftler" sein, der nicht nur von Bildern, sondern von "mystischen Tatsachen" spricht. Daher muss er sich bis heute die Angriffe der wissenschaftlichen Kritik gefallen lassen, die ihn letztlich an seinen selbst gestellten Ansprüchen misst bzw. heutige Anthroposophen sollten genauer klären, was sie mit so widersprüchlichen Begriffen wie Akasha, Mysterienstätte, Mythos, Bild, Begriff, Schau, Hellsichtigkeit, Tatsache und Wissenschaft eigentlich meinen und sich der Schwierigkeiten öffentlicher Kommunikation mit diesen Begriffen klarer bewusst sein.

Interessante Links zur Archäologie von Tintagel:
http://www.heroicage.org/issues/1/hati.htm oder http://www.bbc.co.uk/dna/h2g2/A201312